Verfassungsbeschwerde gegen EU-Handelsabkommen mit Singapur

Karlsruhe/Berlin, 16. Mai 2019. Ein Bündnis aus Mehr Demokratie, Campact und foodwatch hat Verfassungsbeschwerde gegen das EU-Handelsabkommen mit Singapur eingereicht. Das Abkommen stehe exemplarisch für eine neue Art von Freihandelsverträgen, mit denen weitreichende Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen würden – ohne, dass der Bundestag beteiligt ist, erklärten die Organisationen auf einer Pressekonferenz am Donnerstag in Karlsruhe. Demokratisch nicht-legitimierte Handelsausschüsse könnten in Zukunft Entscheidungen treffen, die tief in das Leben der europäischen Bürgerinnen und Bürger eingreifen, etwa zur Kennzeichnung von Lebensmitteln oder zur Liberalisierung von Dienstleistungen, so die Kritik. Das Singapur-Abkommen verstoße damit gegen das deutsche Grundgesetz.

Verlust von Kompetenzen

Mehr Demokratie, Campact und foodwatch forderten, dass der Bundestag über Handelsabkommen wie den EU-Vertrag mit Singapur abstimmen und klar definiert werden müsse, welche Kompetenzen und Rechte auf die EU-Ausschüsse übertragen werden. Andernfalls würde die Demokratie geschwächt und die Europäische Union bei den Bürgerinnen und Bürgern an Akzeptanz verlieren. Die Organisationen gehen davon aus, dass die Entscheidung der Karlsruher Richterinnen und Richter maßgeblich dafür sein wird, wie in Zukunft über Handelsabkommen entschieden wird.

„Durch das EU-Singapur-Abkommen findet eine unzulässige Kompetenzübertragung vom Nationalstaat auf die Europäische Union statt – ohne die Zustimmung des Bundestages. Diese Kompetenzübertragung schwächt die demokratische Teilhabe des deutschen Parlamentes an der europäischen Politik“, sagte Prof.Dr. Wolfgang Weiß, vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht der Universität Speyer und Prozessbevollmächtigter des Aktionsbündnisses. „Das EU-Singapur-Abkommen installiert Ausschüsse, die sehr weitgehende und völkerrechtlich bindende Entscheidungen treffen können – und trotzdem keiner demokratischen Kontrolle unterworfen sind. Durch das System der Vertragsgremien wird eine neue Hoheitsebene geschaffen, die die Struktur innerhalb der EU fundamental verändert und die demokratische Teilhabe sowohl des EU-Parlaments als auch der nationalen Parlamente schwächt.“

Das EU-Handelsabkommen mit Singapur (EU-Singapore-Free-Trade-Agreement, EUSFTA) ist ausverhandelt. Das Europaparlament hat dem Vertrag im Februar zugestimmt, die endgültige Verabschiedung durch den Europäischen Rat steht kurz bevor. Die Parlamente in den Mitgliedstaaten dürfen allerdings nicht abstimmen. Denn nach der Kritik an Abkommen wie dem EU-Kanada-Freihandelsabkommen CETA hat die EU ihre neuen Handelsverträge in zwei Teile aufgeteilt: Ein Teil regelt den Investitionsschutz, ein anderer Teil behandelt Handels- und Dienstleistungsliberalisierung. Dieser sehr viel weitreichendere Handelsteil wird als sogenanntes „EU only“-Abkommen eingestuft, über den ausschließlich der Ministerrat und das Europaparlament entscheiden. Aus Sicht von Mehr Demokratie, Campact und foodwatch ist das nicht akzeptabel – die drei Organisationen wollen prüfen lassen, ob „EU only“ mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist.

Zweigeteiltes Abkommen

„Die Verfassungsbeschwerde richtet sich nicht gegen die Europäische Union und auch nicht gegen internationalen Handel“, sagte Roman Huber, Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie. „Aber wenn die EU mit ihrer EU-only-Strategie durchkommt, werden dutzende weitere Verträge folgen, bei denen die Parlamente der Mitgliedstaaten in entscheidenden Fragen außen vor bleiben. Das schwächt die Demokratie in Europa.“

Thilo Bode, Geschäftsführer von foodwatch International, erklärte: „Wir dürfen die Kritik an der EU nicht den Europafeinden überlassen. Gerade weil wir für Europa sind, kritisieren wir die neuen europäischen Handelsverträge. Mit ihren undemokratischen Vertragsgremien vergrößern sie die Kluft zwischen den EU-Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern. Die Abkommen sind ein Türöffner für einen noch stärkeren Einfluss von Konzerninteressen auf die Politik in Europa – zum Nachteil von Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz“.

Bei den umfassenden Handelsverträgen neuer Generation, wie es zum Beispiel das CETA-Abkommen und auch das Abkommen mit Singapur sind, geht es nicht mehr nur um klassische Außenhandelspolitik wie den Abbau von Zöllen, sondern um Regulierungen, die tiefgreifende Auswirkungen „hinter der Grenze“ haben. Die EU könne über diesen Weg ohne demokratische Kontrolle in die Mitgliedstaaten hineinregieren, so die Organisationen. Besonderer Kritikpunkt: Über viele Fragen zur Regulierung entscheiden neu eingerichtete Ausschüsse, sogenannte Vertragsgremien, unter Ausschluss des Europaparlamentes. Beispiele im Singapur-Abkommen sind der Ausschuss für Handel, der unter anderem das Recht hat, Kennzeichnungsregeln für Lebensmittel zu erlassen oder der sogenannte SPS-Ausschuss, der Anforderungen an die Schädlingsfreiheit beim Import und Export von Lebensmitteln tierischen Ursprungs festlegen kann. Die Ausschüsse sind sogar ermächtigt, den Text und die Struktur des völkerrechtlichen Vertrags zwischen der EU und Singapur zu ändern. Die Beschlüsse der Ausschüsse sind völkerrechtlich bindend.

Wahlberechtigte konnten sich per Vollmacht der Verfassungsbeschwerde anschließen. Mehr als 13.000 Bürgerinnen und Bürger sind somit Co-Beschwerdeführende in Karlsruhe. Die Klageschrift sowie die Vollmachten reichte das Aktionsbündnis heute mit einer Bild-Aktion beim Bundesverfassungsgericht ein.

Mehr Informationen und Quellen:
– Alle wichtigen Infos zur Verfassungsbeschwerde: https://t1p.de/Hintergrund-Verfassungsbeschwerde;
– Offizielle Klageschrift mit Zusammenfassung: https://t1p.de/Verfassungsbeschwerde-EUSFTA,
– Übersicht: Das sind die neuen EU-Handelsverträge: https://t1p.de/Uebersicht-Handelsabkommen

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